Donnerstag, 15. September 2016

Neue Lebensqualität dank Rehaumstellung

von Rahel Müller (Name geändert)

Halt(los) im eigenen Körper

Neue Lebensqualität dank Reha-Umstellung

Es ist harte Arbeit, ein „lose verbundenes Skelett“ zusammenzuhalten - Charlotte.

„Generalisierte Gelenkhypermobilität!“, erläuterte mir mein Rheumatologe. Ich war damals 27 Jahre alt und hatte nach über drei Jahren „doktern“ endlich eine Erklärung für meine Schmerzen und Gelenkprobleme. Der Jobwechsel im Jahre 2003 zu einer einseitigen Tätigkeit vor dem Bildschirm hatte ich schlecht vertragen und machte meinem Körper enorm zu schaffen.
Die behandelnden Ärzte und Physiotherapeuten rieten mir zu Muskelaufbautraining mittels medizinischer Trainingstherapie, sprich Krafttraining an Maschinen. Motiviert startete ich das Trainingsprogramm - schliesslich sollten so gemäss Fachleuten innerhalb eines Jahres alle Probleme im Griff sein...

Doch es kam ganz anders. Trotz regelmässigem, konsequentem und ausdauerndem Krafttraining besserten die Gelenkprobleme nicht. Im Gegenteil - es plagten mich immer häufiger Subluxationen und Gelenkblockierungen an immer neuen Körperstellen. Sehr häufig litt ich auch an muskulären Überlastungen und Sehnen- bzw. Schleimbeutelentzündungen.
Der Erfolg blieb total aus! Die Alltagsprobleme und Einschränkungen nahmen stetig zu, obwohl ich das ärztlich-physiotherapeutisch verordnete Krafttraining sorgfältig und konsequent weiterführte. Mein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Als einst sehr sportliche Person konnte ich nur noch kurze Zeit am Stück stehen. Beispielsweise bereitete mir ein Apéro oder das Warten vor einer Kasse grosse Probleme. Ebenso konnte ich meine berufliche Tätigkeit nur noch in einem stark reduzierten Mass ausüben.

Ich fühlte mich haltlos im eigenen Körper. Die behandelnden Fachleute wussten nicht weiter - „noch mehr Krafttraining“ war ihre gebetsmühlenartig wiederholte Devise. Aus der Not begann ich selber nach Fachinformationen zu suchen. Dabei lernte ich auch andere Betroffene mit Hypermobilitätssyndrom bzw. Ehlers-Danlos-Syndrom kennen. Die Übergänge dieser zwei Krankheiten, so erfuhr ich, sind fliessend. Da bisher das auslösende Gen noch nicht identifiziert werden konnte, ist die klinische Differenzierung herausfordernd. Viele der Betroffenen berichteten mir, dass das Krafttraining wirkungslos geblieben sei und sie gute Fortschritte mit Training der Tiefenmuskulatur erreichten. Die gleiche Empfehlung Pilates/Core-Stability-Training fand ich ebenso in englischer Fachliteratur [1]. Im Sommer 2014 begann ich diesen neuen vielversprechenden Therapieansatz umzusetzen.

Schon nach kurzer Zeit verspürte ich eine positive Wirkung. Zwar musste ich mit Pilates sehr vorsichtig und auf tiefem Niveau starten. Ich besuchte einmal pro Woche eine 30-minütige Einzellektion Pilates und erhielt ein auf meine Situation angepasstes Heimprogramm. Trotz zeitweiligen Rückfallphasen war der Aufwärtstrend für alle Beteiligten deutlich sichtbar. Die Rumpfstabilität und Ausdauerkraft verbesserte sich kontinuierlich und ich erlangte wieder mehr Funktionalität im Alltag. Im Winter 2014/2015 war es erstmals möglich durchs Langlaufen einen Muskelaufbau zu erzielen. Von anfangs Saison ärztlich-therapeutisch erlaubten 15 Minuten konnte ich die Laufzeit bis Ende Saison auf 40 Minuten steigern. Ein Jahr später gelang schon eine volle Stunde Langlaufen im Skatingstil. Freude herrschte!!
Im März 2015 bestätigte der Chefarzt einer grossen rheumatologischen Abteilung das Reha-Vorgehen mittels Pilates und riet mir, mit dem Krafttraining vollständig aufzuhören. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich weiter. Durchs Tiefenmuskulaturtraining erlangte ich besseren Halt in meinem Körper und lernte meine Bewegungsabläufe kontrollierter bzw. präziser auszuführen. Aufgrund der gesundheitlichen Fortschritte konnte ich dann auch schrittweise mein Arbeitspensum von 20% auf 40% aufstocken.

Natürlich löst das Tiefenmuskulaturtraining nicht alle Probleme. Gelenkblockierungen, Subluxationen und muskuläre Überlastungen gehören immer noch zu meinem Alltag. Mein Bindegewebe ist und bleibt von einem Gendefekt geschwächt. Dadurch ist die passive Stabilisation von Gelenken deutlich schlechter als bei gesunden Personen. So bereiten mir statische oder monotone Tätigkeiten auch nach der Reha-Umstellung immer noch Probleme.

Obwohl ich sehr regelmässig gelenkschonenden Sport treibe, weise ich einen muskulären Hypotonus auf. Das heisst, mein Gewebe sollte erwartungsgemäss eigentlich viel straffer sein, angesichts meiner sportlichen Aktivitäten. Aus persönlicher Erfahrung kann ich die Meinung von Fachleuten teilen, dass der Muskelaufbau bei angeborenen Bindegewebserkrankungen langsamer und erschwerter vorangeht, selbst unter idealen Rahmenbedingungen.

Natürlich hat sich die 11-jährige Odyssee bis zur richtigen Diagnose und funktionierendem Therapieansatz nachteilig auf meinen Gesundheitszustand ausgewirkt. In englischen Fachkreisen vernimmt man immer wieder, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist, hinsichtlich des Langzeitverlaufes... Leider hat der jahrelange „therapeutische Holzweg“ in meinem Körper Spuren hinterlassen. Durch nahezu tägliche Gelenkblockierungen wurden meine Sehnen und Bänder noch laxer. Wieviel man durch die Therapie-Umstellung wieder in den Griff kriegt, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt offen. Trotz diesen unschönen Facts und Umständen hat sich meine Lebensqualität durch die Reha-Umstellung deutlich verbessert. Durch das Tiefenmuskulaturtraining/Pilates, auch segmentale Stabilisierungstherapie genannt, habe ich ein hilfreiches Gegenmittel für viele meiner instabilen Gelenke gefunden. Die verbesserte Gelenkstabilisation und Ausdauerkraft gibt mir neue Freiheiten und das ist mir viel wert!!
Zum Schluss die Gedanken einer schwedischen Tänzerin mit Ehlers-Danlos-Syndrom, welche nach vielen Verletzungen aufgrund ihrer hypermobilen Gelenke sich zur Pilates- und Bewegungstherapeutin ausbilden liess. Zwischenzeitlich hat sie jahrelange Erfahrung und berät unter anderem Menschen mit Ehlers-Danlos-Syndrom.

„Es ist wichtig seinen Körper zu kennen und seine Bedürfnisse zu verstehen, um ihm in jedem Moment die beste Pflege und Unterstützung geben zu können. (...) Gleichzeitig ist es unerlässlich zu verstehen, dass es harte Arbeit ist ein „lose verbundenes Skelett“ zusammenzuhalten.[2]



[1] Grahame Rodney/Keer Rosemary, 2003, „Hypermobility Syndrome - Recognition and Management for Physiotherapists“
[2] www.rareconnect.org - Menschen mit seltenen Erkrankungen verbinden - „Charlotte - Eine schwedische Tänzerin mit EDS“

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