von Rahel Müller (Name geändert)
Halt(los) im eigenen Körper
Neue Lebensqualität dank Reha-Umstellung
Es ist harte Arbeit, ein „lose verbundenes Skelett“ zusammenzuhalten -
Charlotte.
„Generalisierte Gelenkhypermobilität!“, erläuterte mir mein Rheumatologe.
Ich war damals 27 Jahre alt und hatte nach über drei Jahren „doktern“ endlich
eine Erklärung für meine Schmerzen und Gelenkprobleme. Der Jobwechsel im Jahre
2003 zu einer einseitigen Tätigkeit vor dem Bildschirm hatte ich schlecht
vertragen und machte meinem Körper enorm zu schaffen.
Die behandelnden Ärzte und Physiotherapeuten rieten mir zu
Muskelaufbautraining mittels medizinischer Trainingstherapie, sprich
Krafttraining an Maschinen. Motiviert startete ich das Trainingsprogramm -
schliesslich sollten so gemäss Fachleuten innerhalb eines Jahres alle Probleme
im Griff sein...
Doch es kam ganz anders. Trotz regelmässigem, konsequentem und
ausdauerndem Krafttraining besserten die Gelenkprobleme nicht. Im Gegenteil -
es plagten mich immer häufiger Subluxationen und Gelenkblockierungen an immer
neuen Körperstellen. Sehr häufig litt ich auch an muskulären Überlastungen und
Sehnen- bzw. Schleimbeutelentzündungen.
Der Erfolg blieb total aus! Die Alltagsprobleme und Einschränkungen
nahmen stetig zu, obwohl ich das ärztlich-physiotherapeutisch verordnete
Krafttraining sorgfältig und konsequent weiterführte. Mein Gesundheitszustand
verschlechterte sich zusehends. Als einst sehr sportliche Person konnte ich nur
noch kurze Zeit am Stück stehen. Beispielsweise bereitete mir ein Apéro oder
das Warten vor einer Kasse grosse Probleme. Ebenso konnte ich meine berufliche
Tätigkeit nur noch in einem stark reduzierten Mass ausüben.
Ich fühlte mich haltlos im eigenen Körper. Die behandelnden Fachleute
wussten nicht weiter - „noch mehr Krafttraining“ war ihre gebetsmühlenartig
wiederholte Devise. Aus der Not begann ich selber nach Fachinformationen zu
suchen. Dabei lernte ich auch andere Betroffene mit Hypermobilitätssyndrom bzw.
Ehlers-Danlos-Syndrom kennen. Die Übergänge dieser zwei Krankheiten, so erfuhr
ich, sind fliessend. Da bisher das auslösende Gen noch nicht identifiziert
werden konnte, ist die klinische Differenzierung herausfordernd. Viele der
Betroffenen berichteten mir, dass das Krafttraining wirkungslos geblieben sei
und sie gute Fortschritte mit Training der Tiefenmuskulatur erreichten. Die
gleiche Empfehlung Pilates/Core-Stability-Training fand ich ebenso in
englischer Fachliteratur [1].
Im Sommer 2014 begann ich diesen neuen vielversprechenden Therapieansatz
umzusetzen.
Schon nach kurzer Zeit verspürte ich eine positive Wirkung. Zwar musste
ich mit Pilates sehr vorsichtig und auf tiefem Niveau starten. Ich besuchte
einmal pro Woche eine 30-minütige Einzellektion Pilates und erhielt ein auf
meine Situation angepasstes Heimprogramm. Trotz zeitweiligen Rückfallphasen war
der Aufwärtstrend für alle Beteiligten deutlich sichtbar. Die Rumpfstabilität
und Ausdauerkraft verbesserte sich kontinuierlich und ich erlangte wieder mehr
Funktionalität im Alltag. Im Winter 2014/2015 war es erstmals möglich durchs
Langlaufen einen Muskelaufbau zu erzielen. Von anfangs Saison
ärztlich-therapeutisch erlaubten 15 Minuten konnte ich die Laufzeit bis Ende
Saison auf 40 Minuten steigern. Ein Jahr später gelang schon eine volle Stunde
Langlaufen im Skatingstil. Freude herrschte!!
Im März 2015 bestätigte der Chefarzt einer grossen rheumatologischen
Abteilung das Reha-Vorgehen mittels Pilates und riet mir, mit dem Krafttraining
vollständig aufzuhören. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich weiter. Durchs
Tiefenmuskulaturtraining erlangte ich besseren Halt in meinem Körper und lernte
meine Bewegungsabläufe kontrollierter bzw. präziser auszuführen. Aufgrund der
gesundheitlichen Fortschritte konnte ich dann auch schrittweise mein
Arbeitspensum von 20% auf 40% aufstocken.
Natürlich löst das Tiefenmuskulaturtraining nicht alle Probleme.
Gelenkblockierungen, Subluxationen und muskuläre Überlastungen gehören immer
noch zu meinem Alltag. Mein Bindegewebe ist und bleibt von einem Gendefekt
geschwächt. Dadurch ist die passive Stabilisation von Gelenken deutlich
schlechter als bei gesunden Personen. So bereiten mir statische oder monotone
Tätigkeiten auch nach der Reha-Umstellung immer noch Probleme.
Obwohl ich sehr regelmässig gelenkschonenden Sport treibe, weise ich
einen muskulären Hypotonus auf. Das heisst, mein Gewebe sollte erwartungsgemäss
eigentlich viel straffer sein, angesichts meiner sportlichen Aktivitäten. Aus
persönlicher Erfahrung kann ich die Meinung von Fachleuten teilen, dass der
Muskelaufbau bei angeborenen Bindegewebserkrankungen langsamer und erschwerter
vorangeht, selbst unter idealen Rahmenbedingungen.
Natürlich hat sich die 11-jährige Odyssee bis zur richtigen Diagnose und
funktionierendem Therapieansatz nachteilig auf meinen Gesundheitszustand
ausgewirkt. In englischen Fachkreisen vernimmt man immer wieder, wie wichtig
eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist, hinsichtlich des
Langzeitverlaufes... Leider hat der jahrelange „therapeutische Holzweg“ in
meinem Körper Spuren hinterlassen. Durch nahezu tägliche Gelenkblockierungen
wurden meine Sehnen und Bänder noch laxer. Wieviel man durch die Therapie-Umstellung
wieder in den Griff kriegt, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt offen. Trotz diesen
unschönen Facts und Umständen hat sich meine Lebensqualität durch die Reha-Umstellung
deutlich verbessert. Durch das Tiefenmuskulaturtraining/Pilates, auch
segmentale Stabilisierungstherapie genannt, habe ich ein hilfreiches
Gegenmittel für viele meiner instabilen Gelenke gefunden. Die verbesserte
Gelenkstabilisation und Ausdauerkraft gibt mir neue Freiheiten und das ist mir
viel wert!!
Zum Schluss die Gedanken einer schwedischen Tänzerin mit
Ehlers-Danlos-Syndrom, welche nach vielen Verletzungen aufgrund ihrer
hypermobilen Gelenke sich zur Pilates- und Bewegungstherapeutin ausbilden
liess. Zwischenzeitlich hat sie jahrelange Erfahrung und berät unter anderem
Menschen mit Ehlers-Danlos-Syndrom.
„Es ist wichtig seinen Körper zu kennen und seine
Bedürfnisse zu verstehen, um ihm in jedem Moment die beste Pflege und
Unterstützung geben zu können. (...) Gleichzeitig ist es unerlässlich zu
verstehen, dass es harte Arbeit ist ein „lose verbundenes Skelett“
zusammenzuhalten.[2]“
[1] Grahame Rodney/Keer Rosemary, 2003, „Hypermobility Syndrome
- Recognition and Management for Physiotherapists“
[2] www.rareconnect.org
- Menschen mit seltenen Erkrankungen verbinden - „Charlotte - Eine schwedische
Tänzerin mit EDS“
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