Erfahrungsberichte von EDS Patienten




































Ganz normale Tage mit der ganzen halben Gesundheit

Es ist nach Mitternacht, keine Ahnung wie spät. Ich habe mir abgewöhnt, auf den Wecker zu drücken und Brillen los die Zeit auf dem beleuchteten Display doch nicht zu erkennen.
Als meine Beine immer rastlos anfingen zu laufen, war das etwas Anderes. Dank Sifrol muss ich jetzt nicht mehr ein zwei Runden drehen, bis die neue Tablette wirkt.
Ich liege noch immer so auf der Seite, wie ich mich gebettet hatte, Dinkelkissen mit Kuhle im Kissen unter Kopf und Nacken, langes Kissen zwischen den Knien bis zum Bauch, kleines steifes Kissen unter der rechten Schulter, weiches Kissen zur Abstützung des Unterarms. Es ist Zeit, mich umzudrehen und die linke Schulter zu entlasten, die schmerzhaft trotz aller Polsterung in die Endstellung abgeglitten ist. Ich zögere das Umdrehen noch etwas hinaus, denn das Umdrehen und neue Position finden ist aufwendig. Heute um so mehr, da mein linker Arm weg ist, eingeschlafen, abgeklemmt und wie tot unter mir liegt. Aber dafür hat man zwei davon, dass der eine, den anderen helfen kann. Einmal, zweimal wiederholt sich das Prozedere noch bis sich meine Hüfte, meist noch vor dem Wecker klingeln, bemerkbar macht, so dass ich freiwillig aufstehe. Ich weiss, es wird noch schlimmer, wenn ich dann liegenbleibe.
Teewasser aufsetzen, ins Bad für das kleine Geschäft und dann schnell auf die Yogamatte und noch ein paar Pilatesübungen geturnt, wenn es geht. Oft baut sich aber der Hüftschmerz so schnell auf, dass er noch vorm ersten Tee die Bewegungen limitiert. Manchmal so, dass der Schmerz mir die Tränen in die Augen drückt. Da helfen nicht mal die bunten Pillen. Ich würde es rausschreien – aber was bringt es? Ich hoffe, dass der Schmerz heute schnell vergeht, denn das tut er meistens mit Bewegung. Manchmal hält er den ganzen Tag an, aber es war schon schlimmer. Hauptsache ich kann meine Socken irgendwie anziehen und raus aus der Wohnung. Ist nicht immer so einfach. Und wenn dann der tote Arm von der Nacht noch nicht wieder richtig erwacht ist, wird es um so schwieriger.
Seit ein paar Wochen streikt mein rechtes Handgelenk, ist sauer, und ich lege noch die Ledermanschette zur Schonung an. Wenn ich es richtig gut schone, wird es in drei, vier Wochen wieder ohne gehen, wenn!
Auf Arbeit setzen dann die Schmerzen in der Brustwirbelsäule trotz Ablenkung noch vorm Mittag ein. Dann wird ein Spaziergang fällig, immer öfter dann am Nachmittag.
Mich nervt dieses erschöpft sein, dass mein Akku sich so schnell leert. So viele Ideen im Kopf und so wenig Energie! Gut, wenn ich so spätestens fünf Uhr ein kurzes Schläfchen zu Haus einschieben kann. Meist geht das mit einem Wärmekissen aus der Mikrowelle unter dem Rücken einher. Das ich zu lange schlafe kommt selten vor. Meine rastlosen Beine verlangen sowieso nach Bewegung um diese Zeit und einer neuer Dosis Sifrol. Und ich muss und kann dann auch meistens noch für ein zwei Stunden arbeiten, das nachholen, was ich tagsüber bzw. durch den zu frühen Feierabend nicht geschafft hatte. Aber zuvor geht es noch mal auf die Matte. Zur späten Stunde und mit der Zwischendurch-Erholung schaffe ich die meisten Übungen, so 30 bis 40 Minuten lang.
Mit einem Guten-Abend-Tee beginnen die Vorbereitungen auf die nächste Nacht. Die Kissen werden geordnet und ich schlafe vor Erschöpfung meist gleich ein. Und dann es ist irgendwann nach Mitternacht und es beginnt von vorn. Bestimmt etwas anders als gestern, vielleicht intensiver, vielleicht aber auch mal etwas weniger schmerzhaft. Am Wochenende extrem viel Schlaf zwischendurch – Erholung von der Woche.
Wenn das alles so bleibt, bin ich fast zufrieden. Wenn man aus einem Tal kommt, dass schon jetzt mit etwas Abstand unvorstellbar tief war, erscheint mir mein ganz normaler Tag, wie beschrieben, als ein Geschenk. Und doch würde ich gern produktiver sein, Ideen verwirklichen, nur schaffe ich das nicht.
Die immer wiederkehrenden, grösseren Probleme werfen mich nicht mehr aus der Bahn, nicht mal die sechs Wochen im Rollstuhl im Frühjahr. So fühlt sich der gestrige Brief aus der Klinik mit einem neuen OP-Termin für eine Metall Entfernung eher wie ein organisatorisches, denn ein gesundheitliches Problem an, sollte es nach anderthalb Dutzend OPs!?
Trotzdem hätte ich gern mal eine etwas längere Schmerzpause von Schulter, Hüfte, Rücken und den unregelmässig aufpoppenden, anderen, kürzeren Schmerzepisoden in Muskeln und Gelenken. Wie ist das eigentlich, einen ganzen Tag mal keine Schmerzen zu haben? Kann mich nicht mehr daran erinnern. Und ich hätte gern mehr Energie, weniger Erschöpfung.

"Da ich gewöhnt bin, die halbe Gesundheit für die ganze zu halten, so habe ich gottlob nichts zu klagen." 

Johann Peter Hebel

Ich habe vorhin eine 1-Cent-Kupfermünze gefunden und überlegt, welches Glück sie bringen könnte: ‚Viele ganz normale Tage mit meiner ganzen halben Gesundheit und ein bisschen mehr!’ Peter Paul
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von Rahel Müller (Name geändert)

Halt(los) im eigenen Körper

Neue Lebensqualität dank Reha-Umstellung

Es ist harte Arbeit, ein „lose verbundenes Skelett“ zusammenzuhalten - Charlotte.

„Generalisierte Gelenkhypermobilität!“, erläuterte mir mein Rheumatologe. Ich war damals 27 Jahre alt und hatte nach über drei Jahren „doktern“ endlich eine Erklärung für meine Schmerzen und Gelenkprobleme. Der Jobwechsel im Jahre 2003 zu einer einseitigen Tätigkeit vor dem Bildschirm hatte ich schlecht vertragen und machte meinem Körper enorm zu schaffen.
Die behandelnden Ärzte und Physiotherapeuten rieten mir zu Muskelaufbautraining mittels medizinischer Trainingstherapie, sprich Krafttraining an Maschinen. Motiviert startete ich das Trainingsprogramm - schliesslich sollten so gemäss Fachleuten innerhalb eines Jahres alle Probleme im Griff sein...

Doch es kam ganz anders. Trotz regelmässigem, konsequentem und ausdauerndem Krafttraining besserten die Gelenkprobleme nicht. Im Gegenteil - es plagten mich immer häufiger Subluxationen und Gelenkblockierungen an immer neuen Körperstellen. Sehr häufig litt ich auch an muskulären Überlastungen und Sehnen- bzw. Schleimbeutelentzündungen.
Der Erfolg blieb total aus! Die Alltagsprobleme und Einschränkungen nahmen stetig zu, obwohl ich das ärztlich-physiotherapeutisch verordnete Krafttraining sorgfältig und konsequent weiterführte. Mein Gesundheitszustand verschlechterte sich zusehends. Als einst sehr sportliche Person konnte ich nur noch kurze Zeit am Stück stehen. Beispielsweise bereitete mir ein Apéro oder das Warten vor einer Kasse grosse Probleme. Ebenso konnte ich meine berufliche Tätigkeit nur noch in einem stark reduzierten Mass ausüben.

Ich fühlte mich haltlos im eigenen Körper. Die behandelnden Fachleute wussten nicht weiter - „noch mehr Krafttraining“ war ihre gebetsmühlenartig wiederholte Devise. Aus der Not begann ich selber nach Fachinformationen zu suchen. Dabei lernte ich auch andere Betroffene mit Hypermobilitätssyndrom bzw. Ehlers-Danlos-Syndrom kennen. Die Übergänge dieser zwei Krankheiten, so erfuhr ich, sind fliessend. Da bisher das auslösende Gen noch nicht identifiziert werden konnte, ist die klinische Differenzierung herausfordernd. Viele der Betroffenen berichteten mir, dass das Krafttraining wirkungslos geblieben sei und sie gute Fortschritte mit Training der Tiefenmuskulatur erreichten. Die gleiche Empfehlung Pilates/Core-Stability-Training fand ich ebenso in englischer Fachliteratur [1]. Im Sommer 2014 begann ich diesen neuen vielversprechenden Therapieansatz umzusetzen.

Schon nach kurzer Zeit verspürte ich eine positive Wirkung. Zwar musste ich mit Pilates sehr vorsichtig und auf tiefem Niveau starten. Ich besuchte einmal pro Woche eine 30-minütige Einzellektion Pilates und erhielt ein auf meine Situation angepasstes Heimprogramm. Trotz zeitweiligen Rückfallphasen war der Aufwärtstrend für alle Beteiligten deutlich sichtbar. Die Rumpfstabilität und Ausdauerkraft verbesserte sich kontinuierlich und ich erlangte wieder mehr Funktionalität im Alltag. Im Winter 2014/2015 war es erstmals möglich durchs Langlaufen einen Muskelaufbau zu erzielen. Von anfangs Saison ärztlich-therapeutisch erlaubten 15 Minuten konnte ich die Laufzeit bis Ende Saison auf 40 Minuten steigern. Ein Jahr später gelang schon eine volle Stunde Langlaufen im Skatingstil. Freude herrschte!!
Im März 2015 bestätigte der Chefarzt einer grossen rheumatologischen Abteilung das Reha-Vorgehen mittels Pilates und riet mir, mit dem Krafttraining vollständig aufzuhören. Mein Gesundheitszustand verbesserte sich weiter. Durchs Tiefenmuskulaturtraining erlangte ich besseren Halt in meinem Körper und lernte meine Bewegungsabläufe kontrollierter bzw. präziser auszuführen. Aufgrund der gesundheitlichen Fortschritte konnte ich dann auch schrittweise mein Arbeitspensum von 20% auf 40% aufstocken.

Natürlich löst das Tiefenmuskulaturtraining nicht alle Probleme. Gelenkblockierungen, Subluxationen und muskuläre Überlastungen gehören immer noch zu meinem Alltag. Mein Bindegewebe ist und bleibt von einem Gendefekt geschwächt. Dadurch ist die passive Stabilisation von Gelenken deutlich schlechter als bei gesunden Personen. So bereiten mir statische oder monotone Tätigkeiten auch nach der Reha-Umstellung immer noch Probleme.

Obwohl ich sehr regelmässig gelenkschonenden Sport treibe, weise ich einen muskulären Hypotonus auf. Das heisst, mein Gewebe sollte erwartungsgemäss eigentlich viel straffer sein, angesichts meiner sportlichen Aktivitäten. Aus persönlicher Erfahrung kann ich die Meinung von Fachleuten teilen, dass der Muskelaufbau bei angeborenen Bindegewebserkrankungen langsamer und erschwerter vorangeht, selbst unter idealen Rahmenbedingungen.

Natürlich hat sich die 11-jährige Odyssee bis zur richtigen Diagnose und funktionierendem Therapieansatz nachteilig auf meinen Gesundheitszustand ausgewirkt. In englischen Fachkreisen vernimmt man immer wieder, wie wichtig eine frühzeitige Diagnose und Behandlung ist, hinsichtlich des Langzeitverlaufes... Leider hat der jahrelange „therapeutische Holzweg“ in meinem Körper Spuren hinterlassen. Durch nahezu tägliche Gelenkblockierungen wurden meine Sehnen und Bänder noch laxer. Wieviel man durch die Therapie-Umstellung wieder in den Griff kriegt, bleibt zum jetzigen Zeitpunkt offen. Trotz diesen unschönen Facts und Umständen hat sich meine Lebensqualität durch die Reha-Umstellung deutlich verbessert. Durch das Tiefenmuskulaturtraining/Pilates, auch segmentale Stabilisierungstherapie genannt, habe ich ein hilfreiches Gegenmittel für viele meiner instabilen Gelenke gefunden. Die verbesserte Gelenkstabilisation und Ausdauerkraft gibt mir neue Freiheiten und das ist mir viel wert!!
Zum Schluss die Gedanken einer schwedischen Tänzerin mit Ehlers-Danlos-Syndrom, welche nach vielen Verletzungen aufgrund ihrer hypermobilen Gelenke sich zur Pilates- und Bewegungstherapeutin ausbilden liess. Zwischenzeitlich hat sie jahrelange Erfahrung und berät unter anderem Menschen mit Ehlers-Danlos-Syndrom.

„Es ist wichtig seinen Körper zu kennen und seine Bedürfnisse zu verstehen, um ihm in jedem Moment die beste Pflege und Unterstützung geben zu können. (...) Gleichzeitig ist es unerlässlich zu verstehen, dass es harte Arbeit ist ein „lose verbundenes Skelett“ zusammenzuhalten.[2]



[1] Grahame Rodney/Keer Rosemary, 2003, „Hypermobility Syndrome - Recognition and Management for Physiotherapists“
[2] www.rareconnect.org - Menschen mit seltenen Erkrankungen verbinden - „Charlotte - Eine schwedische Tänzerin mit EDS“
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Seltene Krankheiten Krank und alleingelassen

Linda Weber (Name geändert): «Das Hin und Her zwischen den Ärzten frisst meine Kräfte auf.»

Wer an einer seltenen Krankheit leidet, hat es doppelt schwer: Die Ärzte sind oft ratlos, und die Versicherungen bocken. Nun sollen diese besser mit den Hausärzten zusammenarbeiten.


Wäre Linda Weber (Name geändert) noch ein Kind, bekäme sie sofort den Stempel «hyperaktiv» aufgedrückt. Wegen ihrer Symptome: Die 50-Jährige kann kaum stillsitzen, rutscht dauernd auf dem Stuhl hin und her, steht auf, streckt und bückt sich. Grund für das merkwürdige Verhalten ist ein Gendefekt. Erst auf den zweiten Blick fällt der blaue, halb gefüllte Gymnastikball auf, den sie sich ständig hinter dem schmalen Rücken hin- und herschiebt. «Ohne dieses Ding könnte ich kaum sitzen», sagt sie.
Bis vor sechs Jahren arbeitete Linda Weber als Lehrerin. Wegen chronischer Schmerzen und ständiger Müdigkeit musste sie ihr kleines Teilzeitpensum aber aufgeben. Sie leidet am Ehlers-Danlos-Syndrom (EDS), einer genetisch bedingten Bindegewebs­erkrankung. Den Betroffenen fehlt ein bestimmtes Eiweiss, ein Aufbau-Klebstoff des Kollagens.
Da Bindegewebe überall im Körper vorkommt, sind die Symptome sehr vielfältig und reichen von überbeweglichen Gelenken bis hin zum Reissen der inneren Organe. Die oft schweren Krankheitsverläufe erfordern eine aufwendige Behandlung und sind mit hohen Belastungen für die Betroffenen verbunden. Es gibt bis heute keine Heilungschancen.
Irrwege und falsche Diagnosen

EDS ist eine sogenannt seltene Krankheit; diese sind zu 80 Prozent genetischer Natur. Eine Krankheit gilt dann als selten, wenn höchstens fünf von 10'000 Personen betroffen sind. Heute sind etwa 6000 bis 8000 seltene Krankheiten bekannt, in der Schweiz leiden schätzungsweise bis zu 580'000 Menschen an einer davon. Ein Hauptpro­blem vieler Betroffener sind diagnos­tische Irrwege (manchmal dauert es Jahre, bis eine Diagnose feststeht) und Behandlungsprobleme durch den Mangel an Informationen auf allen Ebenen. Hinzu kommen die adminis­trativen Hürden, also die Unklarheit und Willkür bei der Vergütung durch Krankenkassen und Sozialversicherungen. «Jemand mit einer seltenen Krankheit wird oft schlechter versorgt als jemand mit einer häufigeren», sagt Esther Neiditsch, die abtretende Generalsekretärin von Pro Raris Schweiz, dem Dachverband für seltene Krankheiten. «Das darf nicht sein.»
Vor diesem Hintergrund hat der Bundesrat letzten Herbst ein nationales Konzept zu seltenen Krankheiten verabschiedet. Damit soll in der ganzen Schweiz die Zusammenarbeit ­zwischen behandelnden Ärzten, Vertrauensärzten und Versicherungen hinsichtlich Kostenübernahme und ­genetischer Analysen standardisiert werden. Das Konzept schlägt 19 konkrete Massnahmen vor. Eine der wichtigsten ist die Schaffung von Referenzzentren, in denen Forschung, Wissen und Behandlung seltener Krankheitsgruppen gebündelt werden.
«Endlich wusste ich, ich habe etwas»

Mitte Mai hat nun der Bundesrat den Umsetzungsplan des Konzepts genehmigt, bis Ende 2017 sollen die Referenzzentren geschaffen werden, Anzahl und Standorte feststehen.
Bei Linda Weber wurde erst vor drei Jahren das EDS-Syndrom mittels einer Hautbiopsie nachgewiesen. «Das Resultat hat mich beruhigt: Endlich wusste ich, okay, ich habe wirklich etwas. Das erklärt meine Beschwerden.» Jahrelang litt sie schon vorher unter starken Schlafstörungen, konnte sich tagsüber kaum mehr erholen, hatte ständig Schmerzen, bis sie mit 40 zusammenbrach. Sie schiebt ihre randlose Brille ins grau melierte Haar und seufzt. «Es braucht viel Kraft, meinen gesundheitlichen Level zu halten. Stabil zu bleiben ist meine grösste Leistung.» Wöchentlich geht sie zur Physio- und Schmerztherapie und wird zudem psychologisch betreut.
Seit sie aufgrund ihres schlechten Gesundheitszustands nicht mehr arbeiten kann, geht es ihr auch finanziell schlecht. Heute ist sie Sozialhilfe­bezügerin. Sie hoffte, dank einer IV-Rente raus aus der Sozialhilfe zu ­kommen, aber die IV verfügte letzten Herbst, sie sei zu 75 Prozent arbeits­fähig. Zu diesem Resultat kam die medizinische Abklärungsstelle (Medas) der Invalidenversicherung. Entgegen der Empfehlung ihrer Hausärztin und der Genetikerin und EDS-Spezialistin Marianne Rohrbach vom Kinderspital Zürich: «Für Frau Weber wäre eine Tätigkeit von etwa 40 Prozent mit wechselnden Belastungen machbar.»
«Die IV unterstellt mir, dass ich viel mehr arbeiten könnte. Aber das geht nicht, obwohl ich so gern würde.»
Linda Weber (Name geändert)
«Ich war total geschockt», sagt Weber. «Die IV unterstellt mir, dass ich viel mehr arbeiten könnte. Aber das geht nicht, obwohl ich so gern würde.» Die Medas-Gutachter hätten zwar ein­zelne Aspekte ihrer gesundheitlichen Probleme beachtet, aber nicht das ­Gesamtbild erfasst. «Obwohl ihnen die Erfahrung fehlt, wurde kein EDS-Spezialist zugezogen. Die Rentenablehnung, das Hin und Her zwischen den Ämtern frisst meine verbleibenden Kräfte auf», sagt sie.
Den IV-Gutachtern fehlt die Erfahrung

Mangelnde Erfahrung der IV-Gutachter mit seltenen Krankheiten kri­tisiert auch Angie Hagmann, Leiterin der Fach- und Kontaktstelle avanti donne für Frauen mit Behinderung. «Nicht spezialisierte Ärzte sehen naturgemäss nur selten Patienten mit ­einer Krankheit wie EDS. Die IV-Gutachter sind meist nicht spezialisiert. Trotzdem setzen sie sich oft über die Einschätzung behandelnder Ärzte zur Arbeitsfähigkeit hinweg. Wir haben mehrere solche Fälle in der Beratung.»
Genau deshalb fordern Fachleute wie Esther Neiditsch für die Beurteilung der IV-Rente Expertengremien, die unabhängig von IV-Gutachtern und Krankenkassen Patienten mit ­seltenen Krankheiten anschauen und den Rentenanspruch festlegen. «Solche Experten sind sicher nicht befangener als von den Versicherungen bezahlte Ärzte», sagt Neiditsch dezidiert.
«Zwei verschiedene Blickwinkel»

Mediensprecherin Sabrina Gasser vom Bundesamt für Sozialversicherungen, das für die IV zuständig ist, bestätigt, dass zum Teil mangelndes Fachwissen «ein Problem für die ­Ärzteschaft – inklusive Gutachter – darstellen kann». Dass IV-Gutachter die Leistungsfähigkeit der Betroffenen anders einschätzen als die Haus- und Fachärzte, habe aber einen anderen Grund: «Hausärzte beurteilen ihre ­Patienten aus einem medizinischen Blickwinkel, IV-Gutachter im Hinblick auf die Arbeitsfähigkeit.» Wieso diese Blickwinkel sich dann so stark unterscheiden, bleibt aber dahingestellt.
Das nationale Konzept zu den seltenen Krankheiten steht unter der Obhut des Bundesamts für Gesundheit, Rentenspezifische Themen gehören aber ins Ressort des Bundesamts für Sozialversicherungen. Ein ständiges Hin und Her zwischen den Ämtern verhindert wohl oft die pragmatische Lösung der konkreten Probleme – zum Nachteil der Betroffenen.
Trotzdem ist Matthias Baumgartner, Leiter des klinischen Forschungsschwerpunktes radiz (Rare Disease Initiative Zürich) über seltene Krankheiten an der Universität Zürich, überzeugt, dass das Konzept auf gutem Weg ist. «Damit hat die Schweiz bezüglich seltener Krankheiten den Anschluss an Europa wiedergefunden.» Der Kinderarzt und Professor für Stoffwechselkrankheiten hält ­insbesondere die Schaffung der Referenzzentren für wichtig, um den Betroffenen künftig adäquater helfen zu können.
Linda Weber hat nun mit Hilfe des Sozialamts Beschwerde gegen die IV-Verfügung eingereicht. Eine Antwort erwartet sie frühestens im Herbst.

Autor:    Birthe Homann 29. Mai 2015, Beobachter 11/2015


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